Schweiz-EU: Auf der Suche nach dem modus vivendi

Schweiz-EU: Auf der Suche nach dem modus vivendi 150 150 Eric Nussbaumer

Die NZZ nannte es einen mutigen Entscheid des Bundesrates, als er letzte Woche ankündete, er werde bis im Juni ein Verhandlungsmandat zur Klärung der «Beziehung Schweiz-EU» verabschieden. Neo-Bundesrat Rösti relativiert in guter alter SVP Manier, dass Eckpunkte noch kein Mandat seien. Der Bundesrat ist wie in den meisten Dossier zerstritten, Regieren ist schon lange nicht mehr seine Stärke. Aber lassen wir das alles mal so stehen. Nach dem letzten Sondierungsgespräch im April wird zwischen der Schweiz und der EU ein neuer modus vivendi starten.

Nach all den Jahren der europapolitischen Unwegsamkeit ist es ein kleines Hoffnungszeichen, dass der Bundesrat zu einer normalisierten Beziehung mit der Europäischen Union zurückfinden will. Rösti hin oder her. Mut hin oder her. Es ist nun zwingend, dass sich auch bei der EU eine kleiner Türspalt wieder öffnet, damit das Zusammenarbeiten und die Verständigung in dieser Beziehung einen neuen positiven Drall bekommen. Die Diplomaten nennen diese Phase während der zukünftigen Verhandlung den modus vivendi. Auf fünf Punkte sollten sich die Parteien verständigen:

1 – Alle Äquivalenzverfahren nachführen und Anerkennung gewähren

Die Schweiz und die EU sollten sich rasch darauf verständigen, was bei bestehenden Äquivalenzanerkennungen im Zusammenhang mit dem Binnenmarktzugang noch geklärt werden muss. Wo muss die EU die Anerkennung der Äquivalenz noch bestätigen, wo muss die Schweiz noch nachjustieren? Das kann in wenigen Monaten geschehen, damit die Zielgerade im Bereich der Äquivalenz für beide Parteien rasch sichtbar wird. Das heisst, die Schweiz gestaltet ihr eigenes Recht  EU-konform, meistens ohne Abkommen, aber die äquivalente Gesetzgebung ist eine Basis für einzelne Binnenmarktzugänge. Denn wenn die Verhandlungen positiv voranschreiten, sollte so rasch wie möglich im Bereich der Äquivalenzen des Drittstaates Schweiz eine «Normalität Stand 2023» erreicht werden. Alle bestehenden Äquivalenzstreitigkeiten und Nadelstiche sollten zuerst beseitigt werden. Die EU sollte sich glücklich schätzen, wenn der  Drittstaat zuerst beim Äquivalenzansatz keine Hürden mehr aufbaut oder für sich selber keine Ausnahmen beansprucht.

2 – Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungskooperation bis 2027 vereinbaren

Die  Bereinigung der Äquivalenzstreitigkeiten sollte in Parallelität mit den Assoziierungsverhandlungen bei Horizon Europe, Erasmus+, Copernicus und Creative Europe erfolgen. Die Schweiz sollte hier aktiv eine breite Kooperation in diesen vier Programmen anstreben. Natürlich kann man das alles nur für die laufende Programmperiode bis 2027 abschliessen, aber das sollte rasch geschehen. Hochschulen und Universitäten, Kulturschaffende und Jugendliche brauchen ein überzeugendes Auftreten des Bundesrates für eine neue Kooperationskultur. Wenn sich der Bundesrat aber wieder wie 2013 im Klein Klein verheddert, dann wird das nichts mit dem neuen Vertrauen. Es muss gelingen für die laufende Programmperiode rasch einen umfassenden Abschluss hinzukriegen.

3 – Verstetigung der Kohäsionsbeiträge ab 2028 vereinbaren

Für die EU ist die verbindliche Regelung der zukünftigen Kohäsionszahlungen bedeutungsvoll. Hier sollten sich die Parteien auf eine verbindliche Regelung ab 2028 einigen. Im Jahre 2028 beginnt in der EU wieder ein neuer siebenjähriger Finanzrahmen (MFR), ebenso beginnen ab 2028 die neuen Programmperioden. Wenn die Schweiz ab 2028 gesichert dabei sein will, dann darf sie sich jetzt nicht mehr verstecken und klar machen, was sie zur europäischen Kohäsion beitragen will. Das schafft das Vertrauen, das nötig ist für erfolgreiche Verhandlungen zu den Binnenmarktabkommen.

4 – Politischer Dialog aktiv praktizieren

Was wirklich aufhören muss, ist dieses ewige Theater, wenn ein Bundesrat sich nach Brüssel bewegt oder wenn eine Kommissarin/ein Kommissar in die Schweiz kommt. Der Bundesrat hat den Vorschlag des regelmässigen politischen Dialogs eingebracht. Nur muss er diesen Wunsch nun aktiv pflegen. Es sollte jedes Jahr ein offizielles Schweiz-EU-Treffen geben. Die Parlamentsdelegationen aus dem EU-Parlament und der Schweizer Bundesversammlung treffen sich dieses Jahr bereist zum 50ten Mal. Der Bundesrat sollte zumindest dahin kommen, dass er eine Tradition schaffen will. Denn die Schweiz ist mitten in Europa. Dieses angstvolle Tun vor der EU-Kommission muss ein Ende haben.

5 – Verhandeln mit zweifacher zeitlicher Perspektive

Die Zukunftsfähigkeit der Binnenmarktabkommen mit der EU sind der Kern der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU. Der möglichst ungehinderte Zugang zum EU-Binnenmarkt ist und bleibt das Hauptziel der neuen Verhandlungen. Wer das nicht sieht, hat immer noch nicht verstanden, woher die Schweiz wichtige Teile der Wohlstandsgewinne bekommt. Vom Aussenhandel. Die EU hat den Wunsch geäussert, die Verhandlungen innert einem Jahr bis zum Sommer 2024 abzuschliessen. Diesen Wunsch sollte man ernst nehmen. Das window of opportunity bleibt nicht ewig offen. Der Wunsch muss aber zur Festigung des Vertrauens noch mit einer fixen Termin ergänzt werden. Wer weiss, welche Stolpersteine noch zum Vorschein kommen? Die zeitlich begrenzende Perspektive muss das Jahresende 2027 sein. Wenn bis dann keine paraphierte Vertragslösung  auf dem Tisch liegt, dann darf man von mir aus die hier skizierten Elemente des modus vivendi alle wieder in Frage stellen. Denn dann haben beide Parteien bewiesen, dass sie trotz des neuen Mutes, trotz des geschaffenen Vertrauens nichts Zukunftsfähiges hinkriegen. Wenn wir auf Beginn des mehrjährigen Finanzrahmens 2028-2035 keine verlässliche vertragliche Regelung hinkriegen, dann sollte man sich eingestehen, dass es nicht mehr geht. Dann muss der Bilaterale Zug definitiv in eine andere Richtung gelenkt werden: Dann gibt es nur noch den EWR- oder EU-Beitritt – nicht mehr Drittstaat mit Sonderwünschen, sondern voll akzeptiertes Mitglied. Wirklich fremd ist uns das nicht, denn auch bei der UNO haben wir das nach Jahrzehnten dann auch noch geschafft.