Faktencheck – Zur InstA-Debatte unter Genossen

Faktencheck – Zur InstA-Debatte unter Genossen 5472 3648 Eric Nussbaumer

Nachdem ich die negative Positionierung von Helmut Hubacher zum geplanten Rahmenabkommen (InstA) Schweiz-EU kritisiert habe, hat nun Genosse Rudolf Strahm noch nachgelegt und seine Argumente gegen das verhandelte Rahmenabkommen in der Basler Zeitung unter dem Titel „Wer hat recht: Hubacher oder Nussbaumer?“ publiziert. Seine Ausführungen schliesst er mit der Bemerkung, ich sei als Nationalrat sowieso nur dem Werbe-Narrativ des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten aufgesessen.

Dieser «Einteilung» will ich mit diesem Fakten-Check begegnen. Hier meine Antworten.

Strahm-Argument 1: Nussbaumer versteigt sich in «falsche Versprechen»
Ich bin nicht bekannt, dass ich mit «falschen Versprechen» politisiere. Genosse Molina, mit dem ich über Vieles lustvoll streiten kann, zitiert regelmässig meine politische Art, nämlich der «Sache auf den Grund gehen» zu wollen. Ich habe daher in den letzten Jahren das Europadossier vertieft studiert. Ich verspreche nach diesem Dossierstudium gar nichts, aber ich stelle fest, dass die Frage um das Rahmenabkommen Schweiz-EU unser Land seit 12 Jahren beschäftigt und von Blockierungen (SVP) sowie auch von mehr und mehr linkem Misstrauen gegenüber der europäischen Idee geprägt ist. Als Vertreter der «Sozialdemokratischen Verantwortungslinken» suche ich demgegenüber nach Antworten im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für das friedliche, solidarische und prosperierende Zusammenleben auf unserem Kontinent.

Strahm-Argument 2: Der Kernartikel des Rahmenabkommens überträgt die Hoheit über die Personenfreizügigkeit und den Lohnschutz unzweideutig der Europäischen Gerichtshof.
Ein Kernanliegen des Rahmenabkommens ist tatsächlich, wie Streitigkeiten zwischen den Parteien zukünftig beigelegt werden können. Nachdem die Schweiz selber in ihrem Verhandlungsmandat formuliert hatte, dass die Streitbeilegung auf Streitigkeiten betreffend dem Recht der Europäischen Union durch den EuGH zu entscheiden seien, macht es durchaus Sinn, das dies nun auch so umgesetzt wird. Das Recht der Europäischen Union kann schlussendlich nur durch den EuGH entschieden werden. Aber das Schiedsgericht ist alleinige Entscheidungsinstanz, wenn es um Auslegungsstreitigkeiten von Vertragsbestimmungen zwischen der Schweiz und der EU geht. In dem Sinne ist die anzuwendende Personen- und Dienstleistungsfreiheit im Freizügigkeitsabkommen (FZA) geregelt. Ob die Schweiz mit den eigenständigen Lohnschutzmassnahmen dieses Abkommen verletzt, ist eben gerade der seit Jahren bestehende Konflikt. Es gibt keinen anderen Weg, als diesen Streitpunkt einer Streitschlichtung zuzuführen. Aber es ist nicht so, dass der EuGH darüber entscheidet. Der Lohnschutz bleibt eigenständig, aber er darf das FZA nicht verletzen.

Strahm-Argument 3: Der EU-Gerichtshof sei ein Parteigericht
Diese Argumentation ist unehrlich in Bezug auf den Bilateralen Weg, der daraus besteht, europäisches Recht (völkerrechtlich verbindlich) auch in der Schweiz anzuwenden. Das Parteiengericht wurde von Ruedi Strahm bereits mehrmals thematisiert. In Tat und Wahrheit zeigt diese Bezeichnung die Schizophrenie der schweizerischen Europapolitik. Man will zwar das Recht der Europäischen Union übernehmen, aber man will nicht, dass die materielle Auslegung durch die Gerichtsinstanz der Union vorgenommen werden darf. Fertig gedacht heisst das, dass die vertragliche Übernahme von EU-Recht eine Fehlkonstruktion des Bilateralen Weges ist. Alternativ bestünde einzig ein Szenario «Äquivalenzstrategie», das heisst die Schweiz passt das eigene Recht autonom an das EU-Recht an und beantragt bei der EU die Gleichwertigkeits-Anerkennung (zb. Börsenäquivalenz). Ob wir aber ohne vertragliche Regelungen mit der EU und alleine mit einseitigen Äquivalenz-Anerkennungsverfahren eine grössere Rechtssicherheit für unser Land erreichen, bezweifle ich sehr.

Strahm-Argument 4: Der EU-Gerichtshof hab das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» nie voll akzeptiert.
Der Europäische Gerichtshof entscheidet als Rechtssprechungsorgan der Union aufgrund der rechtlichen Grundlagen der Union. Das schweizerische Bundesgericht entscheidet aufgrund der Rechtsgrundlagen der Schweiz und aufgrund von eingegangenen völkerrechtlichen Verträgen. Der Vorwurf, der EuGH habe das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» nicht akzeptiert, fällt eher auf die Rechtsetzungsorgane der EU zurück: Nicht das Gericht ist das Problem, sondern die Rechtsgrundlagen. Es stimmt, dass die EU bei der wirtschaftlichen und geldpolitischen Integration viel zu lange vorrangig den Abbau von Handelsbarrieren von Kapital und Arbeit priorisierte. Darum hat die europäische Sozialdemokratie seit Jahren eine klare Agenda, nämlich dass der soziale Pfeiler der EU in den Rechtsgrundlagen einen stärkeren Niederschlag finden muss. Dann wird auch der EuGH anders entscheiden müssen. Dass das Prinzip «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort» nun in der revidierten Entsenderichtlinie 2018 explizit ihren Platz gefunden hat, wird auch die Rechtsprechung im Entsendefall von Arbeitnehmenden verändern.

Strahm-Argument 5: Das Doberberger-Urteil des EuGH habe den Lohnschutz ausgehebelt.
Das ist falsch, denn in diesem Verfahren wurde die Frage gestellt, ob Bordservice-Dienstleistungen in einem Fernzug, der durch mehrere Länder fährt, unter den Anwendungsbereich der alten Entsenderichtlinie von 1996 fällt.  Laut EuGH wird im vorgelegten Fall ein wesentlicher Teil der Arbeitsleistung, nämlich sämtliche Tätigkeiten im Rahmen dieser Arbeit mit Ausnahme des Bordservice während den Zugfahrten im Sitzstaat des Unternehmens erbracht, inklusive Antritt und Beendigung des Dienstes, weshalb keine hinreichende Verbindung zu den Mitgliedstaaten besteht, welche diese Züge durchqueren, um als dorthin «entsandt» im Sinne der Entsenderichtlinie gelten zu können. Das ist alles. Der Lohnschutz wurde nicht ausgehebelt, sondern ganz nüchtern festgestellt, dass diese spezifische Dienstleistung in einem Fernzug mit der Entsenderichtlinie 96/71 nicht erfasst ist.

Strahm-Argument 6: Die revidierte Entsenderichtlinie aus dem Jahre 2018 sei nicht in Kraft.
Die revidierte Entsenderichtlinie wurde am 9. Juli 2018 im europäischen Amtsblatt publiziert und trat somit zwanzig Tage nach dieser Publikation in Kraft. Den Mitgliedstaaten obliegt es nun, diese Richtlinie bis am 30. Juli 2020 in ihrem eigenen Recht umzusetzen.
Die Staaten Ungarn und Polen (die mit ihren Regierungen nicht gerade für das Soziale Europa stehen…) haben gegen diese Richtlinie eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Sie ist vom EuGH noch nicht entschieden. Es mutet mich mehr als seltsam an, dass Ruedi Strahm auf diese Nichtigkeitsklage geradezu «hofft», damit in fast unrechtmässiger Weise gegen die EU gepoltert werden kann.

Strahm-Argument 7: Die Schweiz müsste mit dem Rahmenabkommen die Lohnkontrollen massiv abbauen.
Das von der EU vorgeschlagene Protokoll 1 zum Rahmenabkommen sichert unzweifelhaft Kontrollen und Kautionen zu, aber insbesondere die Möglichkeiten der Kautionshinterlegung würde gegenüber heute eingeschränkt. Bei den Kontrolldichten wird entscheidend sein, wie hoch die Missbrauchsquote in unserem Land bei den Arbeits- und Lohnbedingung tatsächlich ausfällt. Die neue Entsenderichtlinie 2018 erteilt nämlich den Mitgliedsstaaten folgendes Recht: «Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.» Niemand hat etwas gegen abschreckende Massnahmen gegen Lohndumping und Entsendungsmissbräuche.Es wäre die Aufgabe der sozialpartnerschaftlichen Arbeitsgruppe zum Rahmenabkommen, genau dies nun zu formulieren und der EU als Klärungsvorschlag zu unterbreiten.  

Strahm-Argument 8: Die Schweiz müsste mit dem Rahmenabkommen die Entsenderichtlinie der EU zwingend übernehmen und würde sich in diesem Bereich der Jurisdiktion des EuGH unterstellen.
Ja, das muss sie und tut es auch schon heute. Denn mit der Unterzeichnung des FZA hat sich die Schweiz verpflichtet, die damaligen Rechtsvorschriften im Bereich der Dienstleistungsfreiheit gleichwertige Rechte und Pflichten anzuwenden (siehe dazu Artikel 16 des FZA). Bei Vertragsabschluss war dies die Entsenderichtlinie 96/71. Auf diese wird im Anhang zum FZA ausdrücklich hingewiesen. Mit dem Rahmenabkommen kämen zwei Elemente neu dazu, nämlich die Streitbeilegung, wenn wir die vertragliche Bestimmung nicht einhalten und die dynamische Rechtsentwicklung. Da die revidierte Entsenderichtlinie 2018/957 die Arbeitnehmerrechte verbessert, kann wohl kein Sozialdemokrat ernsthaft gegen diese Verbesserung votieren – es sei denn, man bekämpft jeglichen weiteren europäischen Integrationsschritt.

Strahm-Argument 9:  Die Schweiz müsste aufgrund von EuGH Urteilen die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen und im Streitfall könnte demnach auch der EuGH über den rascheren Zugang ins Sozialhilfesystem der Kantone entscheiden.
Das ist genau Teil der Klärungen zum Rahmenabkommen. Mit der dynamischen Rechtsentwicklung besteht die Regelung, dass die EU ohne die Schweiz grundsätzlich das Freizügigkeitsrecht weiterentwickeln kann. Damit wir aber genau in solchen Entwicklungen am Tisch sitzen ohne Mitgliedsstaat zu sein, wird das «Decision shaping» im Rahmenabkommen eingeführt. Der EuGH wird nicht einfach so entscheiden, das ist Polemik. Das Rahmenabkommen würde uns ermöglichen, eine gegebenenfalls inakzeptable Rechtsentwicklung auch abzulehnen und stattdessen verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen zu erlangen. Es wäre wiederum für die Sozialdemokratie eine schwierige Frage, unsere ausländischen Arbeitnehmenden, die in unserem Land arbeiten oder gearbeitet haben, von der sozialen Sicherung komplett auszuschliessen. Eine solch geartete Ablehnung des Freizügigkeitsrechts findet sich in der sozialdemokratischen Debatte eher selten.

Strahm-Argument 10: Nussbaumer ignoriert die Fakten und Zusammenhänge.
Das ist eine Unterstellung, die ich mit diesem Faktencheck versucht habe zu widerlegen. Wer Ohren hat, der höre. Wer lesen kann, kann meine Argumente immer wieder lesen. Ja, ich habe eine andere Position als Rudolf Strahm. Ich bin für eine stärkere europäische Integration unseres Landes und ich meine, das InstA ist ein gutes Modell, um unser Land verlässlich in die europäische Zusammengehörigkeit einzugliedern. Dass ich mit dieser Überzeugung alleine dem Werbe-Narrativ des EDA verfalle und Zusammenhänge ignoriere – dies möge hoffentlich dieser Faktencheck widerlegen.