In den nächsten Tagen wird sich der Bundesrat wieder über das institutionelle Abkommen Schweiz-EU beugen und entscheiden, wie es weitergehen soll. Wo stehen wir, was haben wir erreicht, was sollten wir im Interesse unseres Landes nun angehen? Offensichtlich ist, dass die Verzagtheit des Bundesrates seit der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014 immer grösser geworden ist. Jetzt braucht es einen europapolitischen Restart mit klarer Positionierung.
Restart 1: Leichter Zugang zum EU-Binnenmarkt als Basis
Im europäischen Energierecht beginnt es bereits: Es wird neuerdings unterschieden zwischen Drittstaaten und EU-/EWR-Staaten. Das ist schlecht für unser Land, das per se nicht über eine EU-Mitgliedschaft oder eine Anknüpfung an den EWR reden möchte. Wir sollten daher alles daran setzen, dass wir nicht in die Drittstaaten-Falle tappen. Diese bringt uns keine Unabhängigkeit, sondern verengt unseren wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum noch mehr.
Die Idee von der grösstmöglichen Unabhängigkeit tönt zwar immer wieder verlockend, aber sie ist im Zusammenhang mit dem uns real umgebenden EU-Binnenmarkt mit seinen Regeln nicht hilfreich. Internationale Marktregeln haben wenig mit Unabhängigkeit zu tun, sondern sie müssen gestaltet und mitgestaltet werden, weil es sonst andere für uns machen. Ich erachte das minimale «Decision shaping», das wir mit dem Rahmenabkommen erreichen, als bescheiden, aber zentral.
Die Schweizer Diplomaten haben beim Rahmenabkommen gut gearbeitet. Nun bleiben noch materielle Punkte, die sich – bei Lichte betrachtet – als Rosinenpicker-Standpunkte der Schweiz herausstellen. Denn die Schweizer Lohnschutzmassnahmen will die EU nicht in Frage stellen, wohl aber eine mögliche einseitige schweizerische Behinderung der vertraglich vereinbarten Dienstleistungsfreiheit. Und die Niederlassungsregeln kann man für die hier arbeitenden Bürgerinnen und Bürger aus den verschiedenen EU-Staaten nicht unterschiedlich regeln – Gleichbehandlung ist elementar.
Ohne Lösung bei den materiellen Fragen verlieren wir viel, zu viel. Das Rahmenabkommen ist darum der zwingende Restart für einen weiterhin leichten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Aus meiner Wohnregion mit einer starken Pharma- und Chemiebranche kommen nahezu 50% der Schweizer Exporte. Das sind die Jobs hier im Land, die wir mit dem Rahmenabkommen verteidigen.
Restart 2: Zugang zu den zwei grössten EU-Kooperationsprogrammen rasch vereinbaren
Es gibt zwei grosse Kooperationsprogramme der EU: die Forschungskooperation («Horizon») und die Bildungskooperation («Erasmus»). Beide Kooperationsprogramme sind für ein europäisches Land unentbehrlich. Nur die Schweiz tut so, wie wenn die Forderung «Lernen, wo man will» für unsere Jugend keine Option sein soll. Der Bundesrat hatte im 2014 kurzzeitig den Zugang zu beiden Programmen verloren. Inzwischen sind wir bei «Horizon» wieder dabei und der Bundesrat will auch ab 2021 sicher beim neuen Forschungsprogramm wieder dabei sein, das dann startet.
Unerklärlich passiv zeigt sich der Bundesrat bei der Rückkehr zu «Erasmus», bzw. zum Programm «Erasmus+», wie es seit 2014 heisst und das die EU ab 2021 ebenfalls neu aufgleisen wird. Das Parlament hat in beiden Kammern einen klaren Auftrag erteilt. Es müsse «schnellstmöglich» die Verhandlung mit der EU aufgenommen werden. Seit über einem Jahr hat der Bundesrat keinen Finger gerührt. Das geht nicht. Es wird keinen europapolitischen Restart ohne Bildungskooperation geben. Der Bundesrat muss das sträfliche Versäumnis gegen die eigene Jugend rasch korrigieren.
Restart 3: Die europäische Kohäsion und die soziale Dimension stärken
Der europäische Zusammenhalt ist geringer als auch schon. Rechtsnationale Regierungen torpedieren die europäische Idee und sind nicht gewillt, grosse Probleme wie zum Beispiel die Flüchtlingsfrage gemeinsam zu lösen. Statt die Zusammenarbeit zum Zwecke der Problemlösung zu stärken, zelebrieren sie die Abschottung und den nationalstaatlichen Alleingang. Das regt jeden auf, der einen Funken europäische Solidarität im Herzen trägt.
Dennoch ist es richtig, dass wir weiter in die Kohäsion Europas und in das sozial-solidarische Europa investieren. Aber das gelingt innenpolitisch nur, wenn uns bei den beiden ersten Herausforderungen der vollständige Durchbruch gelingt. Ohne leichten Marktzugang und ohne Kooperationsvereinbarung im Bereich Forschung und Bildung wird auch der dritte Restart (der in ein paar Wochen eine parlamentarische Entscheidung verlangt) nicht gelingen.
Es ist höchste Zeit, dass die fünf Willigen im Bundesrat gegen die SVP zusammenrücken und zu einer handlungswilligen Europapolitik mit klaren Schwerpunkten zurückfinden. 2014 ist jetzt wirklich schon lange her. Man kann die europapolitische Spur wieder finden – wenn man will.